Donnerstag, 21. Juni 2007
Mein Urgroßvater und ich von James Krüss


Mein Urgroßvater und ich

Mein Urgroßvater war ein weiser Mann. Als er fünfundsechzig Jahre alt war, zog er das Boot und die Fangkörbe, mit denen er sei Leben lang Hummer gefangen hatte, an Land und fing zu drechseln an. Er drechselte Drehkreisel und Gedichte für Kinder, was – wie jeder zugeben muss – eine weise Beschäftigung ist.
Zu meiner Zeit, das heißt, als ich zehn Jahre zählte, war mein Urgroßvater bereits vierundachtzig. Aber er drechselte immer noch- allerdings mehr Gedichte als Drehkreisel.



Er wohnte auf dem Oberland der Insel Helgoland bei seiner Tochter, die meine Großmutter war und die ich, weil sie oben auf dem Felsen Helgolands wohnte, die Ober-Großmutter nannte.

Meine andere Großmutter, die auf dem Unterland am Fuße des Felsens wohnte, nannte ich Unter-Großmutter, aber die kommt erst später dran. Jetzt will ich von meiner Ober Großmutter reden, bei der mein Urgroßvater wohnte. Sie hatten ein Haus in Trafalgarstraße auf dem Oberland. Aber mein Urgroßvater verbrachte fast alle Tage vom frühen Morgen bis zu späten Abend in der Hummerbude, die dem Wohnhaus gegenüber auf der anderen Straßenseite stand. Hier besuchte ich ihn, so oft ich konnte. Wir drechselten dort zusammen, aber keine Kreisel, sondern Reime.

Eines Tages bekamen meine Schwestern Anneken und Johanneken Masern. Das ist zwar eine ärgerliche Krankheit, aber Anneken und Johanneken, die bald kein Fieber mehr hatten und gar keine Schmerzen, fanden die Masern am Ende ganz hübsch. Sie brauchten nicht zur Schule zu gehen, konnten den lieben langen Tag mit ihren Puppen spielen und bekamen obendrein noch Leckereien von Nachbarn und Verwandten.



Den größten Vorteil von den Masern aber hatte ich. Weil es nämlich eine ansteckende Krankheit ist, wurde ich umquartiert. Man schickte mich in Trafalgarstraße zu meiner Ober-Großmutter und meinem Urgroßvater.
„ Hallo, Boy!“ rief er, als ich mit Sack und Pack dort angezogen kam. „Willst du das Schiff wechseln?“
„Jawoll Käptn!“ antwortete ich und legte die linke Hand an die Pudelmütze.
„ Man grüßt mit der rechten Hand“, sagte mein Urgroßvater. Er zeigte auf meine Ober- Großmutter, die darüber verdrießlich den Kopf schüttelte und „dummes Zeug“ brummte.
Meine Ober-Großmutter, die oben auf dem Inselfelsen wohnte, war eine ernste Frau. Seitdem ihr Mann, mein Großvater, einen richtigen Motorkutter gekauft hatte und damit zwischen unserer Insel und dem Festland hin- und her fuhr, war sie noch viel ernster geworden.
„Der Kutter frisst uns noch die Haare vom Kopf“ sagte sie, als wir nach dem Mittagessen in der Küche saßen. „Früher, als wir bloß die Schaluppe hatten, brauchten wir jedes Jahr ein Knäuel Tauwerk, ein paar Planken, zwei Eimer Farbe und ein paar Flicken für das Segel. Aber was wir jetzt alles brauchen, du meine Güte, das kostet jeden Monat ein Vermögen!“
„Dafür verdient ihr fünfmal soviel wie früher“, lachte mein Urgroßvater.




„Verdienen?“ schrie meine Ober-Großmutter. „Nennst du das verdienen, wenn ich jede Mark, die er mir bringt, gleich wieder hergeben muss für Proviant? Ich möchte wissen, wer diese Berge von Proviant auf dem Schiff eigentlich verzehrt! Davon könnten siebenundsiebzig ausgehungerte Klabautermänner satt werden!“
„O je“ flüsterte mein Urgroßvater mir zu.



„ Wenn sie von Klabautermännern anfängt, dann hört sie erst beim Jüngsten Gericht wieder auf. Komm wir verdrücken uns!“
Er stand und sagte: „Ich geh’ drechseln, Margaretha, und den Kleinen nehme ich mit!“
„Ja, macht ihr euch nur aus dem Staube und lasst mich mit meinen Sorgen allein“, rief sie. „Das verstehen alle Männer. Und bring das dem Jungen nur zeitig bei, damit er auch so ein Taugenichts wird wie du!“
Ich mischte mich in den Streit der Alten nie ein. Ich sagte: „Tschüss, Ober-Großmutter“ und wutschte hinter dem Urgroßvater zur Küchentür hinaus.
„Wenn ihr Kaffee mit heißen Wecken haben wollt, müsst ihr um vier Uhr rüberkommen!“ schallte es hinter uns her; „ Ich setze keinen Fuß in euer Sodom und Gomorra.“
„Was ist denn Sodom und Gomorra, Urgroßvater?“
„Das waren zwei Städte, in den alles drunter- und drüber ging Boy. Du kannst es in der Bibel nachlesen.“
„Aber was meint denn die Ober-Großmutter mit Sodom und Gomorra?“ fragte ich.
„So nennt sie meine Werkstatt, Boy! Und nun setz’ deine Pudelmütze auf. Wir müssen über die Straße.
Auf der Insel war immer Wind, und in die Trafalgarstraße konnten die Winde vom Meer her ohne Umweg hineinpusten. Im Herbst, wenn die Nordoststürme über die Insel fegten, war der Wind in den Gassen so stark, dass ein kleines Kind wie ich sich bequem dagegen lehnen konnte, ohne umzufallen.

An diesem Tage allerdings war es nicht so schlimm, denn wir hatten - obwohl es Ende September war –
mildes Wetter. Trotz dem waren meine Backen windgerötet, als ich die vier Schritte über die Straße gegangen und mit dem Urgroßvater in seine Hummerbude eingetreten war.



Ich wollte gleich die kleine Holztreppe hinauf klettern zur Drechselwerkstatt im ersten Stock. Aber mein Urgroßvater sagte: “Zurück Boy! Wir bleiben unten.“
„Ich will mir nur ein paar Kreisel zum Spielen holen“, rief ich und kletterte weiter die Leiter hinauf.
„Vorsicht! Die Lederne Lisbeth ist oben!“ sagte mein Urgroßvater,
„Die Lederne Lisbeth“ rief ich erschrocken. Und Schritt für Schritt stieg ich wieder abwärts.
„Du weißt doch, dass unser Hummerboot am Strand liegt“ sagte mein Urgroßvater. Und wenn das Boot nicht auf dem Wasser ist, wird die Lederne Lisbeth in der Hummerbude untergebracht. Stimmt’s?“
„Ach ja“ sage ich und kletterte schnell die letzten Sprossen hinunter.


Die Lederne Lisbeth war eigentlich keine schlimme Frau. Sie war eine lebensgroße Puppe aus Leder, die mein Urgroßvater auf dem Hamburger Dom, dem Jahrmarkt, für viel Geld gekauft hatte. Sie lag seit vielen, vielen Jahren in der kleinen Kajüte des Hummerbootes, das natürlich auch Lederne Lisbeth hieß. Die Puppe war so eine Art Schutzgeist für das Boot und daher eine achtbare Person. Aber die Erwachsenen erzählten uns Kinder oft so gruselige Geschichten von ihr, dass sie uns nicht ganz geheuer schien. Nur mein Urgroßvater, der erzählte keine unheimlichen Geschichten. Er sagte „Das ist lauter dummer Schnickschnack. Das Ding ist eine Puppe und weiter nichts. Basta!“
Trotzdem hatte er mir eben, als ich auf der Leiter stand, ein bisschen bang machen wollen. Aber ich wusste schon, warum: Er wollte mich in die Tienerbude locken. Denn wenn ich einmal oben in der Drechselwerkstatt war, ließ ich mich so leicht nicht wieder herunter holen.
Ich folgte meinem Urgroßvater nun in die Tienerbude, in der runde oder viereckige Körbe aus Holz und Tau standen, die mir damals bis fast an die Brust reichten. Das waren die Tiener, mit denen man Hummer fängt. Sie werden an langen Schnüren auf den Meeresgrund herunter gelassen, und dort bleiben sie eine Nacht lang stehen. Durch die lange Leine, an der sie sozusagen hängen, findet man sie leicht wieder. Die Leine ist nämlich mit lauter Korkstücken besetzt.

Sie sieht aus wie eine Kette, auf der man Kümmelbrötchen aus Kork aufgereiht hat. Oben über Wasser läuft die Leine in einen großen runden Korken aus, auf dem ein bunter Wimpel flattert.
Mein Urgroßvater hat in seinem Leben viele Tiener angefertigt. Er hat sie auch oft repariert, wenn die Stürme sie beschädigt hatten. Die Werkstatt, in der er sie herstellte und ausbesserte, hieß die Tienerbude, und hier machten wir es uns jetzt gemütlich. „Setz dich auf die Korken, Boy!“ sagte mein Urgroßvater.
Da ließ ich mich auf die länglichen aufgestapelten Korkplatten nieder, aus denen man die Kümmelbrötchen für die Tienerleinen schnitzt. Mein Urgroßvater nahm eine andere Korkplatte, die an der Wand lehnte, holte sich das kurze, breite Messer und begann, Korken zu schnitzen, die er in einen Wäschekorb warf.
„Ich habe Krischon Hinker einen Korb voll Tienerkorken versprochen“, sagte er, „Dabei können wir uns unterhalten und meinetwegen auch reimen, wenn du willst!“
„O ja, reimen wir was!“ sagte ich.
„Erst erzähle ich dir eine Geschichte“, sagte mein Urgroßvater. “Anschließend reimen wir zur Erholung ein bisschen. Du hast doch Lust auf eine Geschichte?“
O ja, die hatte ich. Mein Urgroßvater könnte nämlich hübsch erzählen.

Die Geschichte von den drei Geschichtenerzählern

In alter Zeit lebten in der Stadt Üsküb drei Geschichtenerzähler, die sich schlecht und recht von ihren Talenten ernährten. Täglich gingen sie auf den Basar, um Zuhörer und vielleicht ein paar Piaster zu gewinnen. Weil aber zu jener Zeit der Handel mit Stambul immer schwieriger wurde (denn eine Räuberbande lauerte den Kaufleuten auf), so wurden die Waren teuer und das Geld knapp, und die drei Geschichtenerzähler wussten bald nicht mehr, wovon sie sich und ihre Familien ernähren sollten.
Das beschlossen, dass fortan nur noch einer von ihnen Geschichten erzählen solle und dass die anderen beiden Badediener oder Wasserverkäufer werden sollten.
Sie versicherten einander durch Handschlag,
dass derjenige von ihnen Geschichtenerzähler bleiben dürfe, der in den folgenden drei Tagen am meisten Zuhörer um sich versammele, und sie versprachen einander, nur Geschichten von Dieben zu erzählen.....usw.usw.usw.


Und morgen geht es weiter, versprochen

Laura

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